F. Rehlinghaus u.a. (Hrsg.): Vergangene Zukünfte von Arbeit

Cover
Titel
Vergangene Zukünfte von Arbeit. Aussichten, Ängste und Aneignungen im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Rehlinghaus, Franziska; Teichmann, Ulf
Reihe
Politik- und Gesellschaftsgeschichte (108)
Erschienen
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Täufert, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam / Institut für Soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

Wer kennt sie nicht, die Redensart „Die Zukunft von gestern ist die Vergangenheit von morgen“? Neben der Allgegenwart solcher Phrasen können auch die ihnen häufig zugrundeliegenden trivialen Kausalitäten den Blick auf ihre Bedeutung verstellen. Dabei wohnt derlei Lebensweisheiten zumeist ein wahrer Kern inne. So auch hier, denn Handlungen, die wir heute tätigen, erwachsen aus vergangenen Erfahrungen und wirken auf künftige Entscheidungen zurück. Dieses Zusammenhangs nahmen sich auch Franziska Rehlinghaus und Ulf Teichmann an, als sie bereits 2016 zu einer Tagung über „Vergangene Zukünfte“ aufriefen, deren Ergebnisse im vorliegenden Sammelband publiziert wurden.1 Am Beispiel der Arbeitswelt widmen sich die Beiträger:innen der Geschichte von Zukunftsvorstellungen, wie sie im 20. Jahrhundert über und durch (Erwerbs-)Arbeit entwickelt und verhandelt wurden.

Wie aktuell das gewählte Untersuchungsfeld ist, zeigt die derzeit grassierende Corona-Pandemie. Wie wohl kaum eine andere gesellschaftliche Entwicklung stellt sie momentan in fast allen Gesellschaftsbereichen Fragen nach der Post-Covid-Zukunft, insbesondere aber nach ihren Auswirkungen auf das Arbeitsleben. Denn jenseits privater Folgen der bislang weitgehend unbekannten Erfahrung eines staatlich verordneten Lockdowns zeigen sich speziell hier Auswirkungen, denen eine entscheidende Reichweite für unsere Zukunft vorausgesagt wird. Vorstellungen und Wünsche, wie wir sie von und für unser berufliches Tun hatten, werden also in eben diesem Moment manifestiert oder verändert, mindestens aber erhalten sie eine neue Imaginationsgrundlage. Dass bei diesen Gedankenspielen „Strukturen im Verhältnis von Zukunft und Arbeit“ aus dem zurückliegenden Jahrhundert zum Tragen kommen – etwa bei „Umgangsweisen mit Zukunftsvorstellungen und -entwürfen, wie sie individuelle und kollektive Akteur:innen in unterschiedlichen Branchen und Gesellschaftssystemen […] entwickelten“ –, stellen in einem Online-Beitrag auch die Herausgeber:innen fest und rufen dazu auf, sich mit diesen „Logiken“ unserer Arbeitsgesellschaft auseinanderzusetzen.2

Dieses Potenzial bietet die hier besprochene Aufsatzsammlung, indem sie dem Ansatz folgt, die beiden Forschungsfelder Arbeit und Zukunft mit dem methodischen Repertoire der Geschichtsdisziplinen New Labour History sowie der Historischen Zukunftsforschung zu bearbeiten. Anknüpfend an Rüdiger Graf und Benjamin Herzog stehen die sozialen Praktiken der im letzten Jahrhundert Handelnden und die Art, wie sie damit die Zukunft der Arbeitswelt beeinflussten, im Fokus der Sammelbandbeiträge.3 Zukunftspraktiken werden als Handlungen verstanden, die Zukunft sowohl erschaffen als auch verändern können. Franziska Rehlinghaus und Ulf Teichmann verdeutlichen in der Einleitung Anliegen und Aufbau des Buches: „Wenn Zukunft nicht etwas ist, das vornehmlich erwartet wird und sich dann vollzieht, sondern etwas, das durch konkrete Handlungen erschaffen wird […], kann das Verhältnis von Arbeit und Zukunft in viele verschieden [sic] Richtungen gelesen werden: nicht nur als Zukunft der Arbeit oder als Arbeit der Zukunft, sondern auch als Zukunft durch Arbeit, als Arbeit mit der Zukunft und als Arbeit an der Zukunft.“ (S. 17, Hervorhebungen im Original).

Entlang dieser Themenkomplexe gruppieren sich neun Beiträge, die anhand verschiedener Branchen aus der Perspektive arbeitsweltlicher Protagonist:innen die Wechselverhältnisse von Zukunft und Arbeit zwischen den 1920er-Jahren und der Schwelle zum 21. Jahrhundert untersuchen. Dabei fokussiert ein Teil der Untersuchungen „auf die realitätsstrukturierende Kraft vergangener Zukunftsentwürfe, -hoffnungen und -ängste und die daraus resultierenden Strategien verschiedener historischer Akteur:innen; andere legen den Schwerpunkt auf die verschiedenen Generierungsmodi von Zukunft, die in konkreten historischen Situationen oder über das gesamte Jahrhundert hinweg in ihrer Gleichzeitigkeit oder in ihrem Wandel rekonstruiert werden“ (S. 20). So widmet sich Marco Swiniartzki den Rationalisierungszukünften in der deutschen Metallindustrie der Weimarer Zeit. Martin Rempe untersucht Bedrohungspotenziale der Orchestermusik in der frühen Bundesrepublik. Den gewerkschaftlichen Diskursen um die durch Arbeitslosigkeit plötzlich bedrohte Zukunft von Lehrer:innen ab den 1970er-Jahren geht Sindy Duong nach. Die Visionen von Arbeit im Nationalsozialismus bettet Karsten Uhl ein. Mirko Winkelmann spürt den bundesdeutschen Ursprüngen des Homeoffice seit den 1980er-Jahren nach. Die arbeitsbezogenen Zukunftserwartungen in der Arbeitsgesellschaft DDR präsentiert Annette Schuhmann. Die Vorstellungen von der Zukunft finnischer Bauarbeiter in der Sowjetunion der 1970er- und 1980er-Jahre sind Thema bei Saskia Geisler. Klaus Nathaus behandelt Zukunftsbezüge der Musikwirtschaft im 20. Jahrhundert. Zuletzt verdeutlicht Franziska Rehlinghaus, welche Rolle Weiterbildungsangebote in den Zukunftsvisionen der 1970er-Jahre eingenommen haben.

Zusammengenommen erfüllt die Bandbreite aller Aufsätze, die durchweg gut lesbar und solide recherchiert sind, den selbstgesteckten Anspruch des Sammelwerkes, etablierte historische Zäsuren sowie Narrative über Arbeit und Zeit im 20. Jahrhundert herauszufordern. Dazu zählen insbesondere Thesen über das Ausmaß der Zukunftsgestaltung und ihre verstärkte Individualisierung, aber auch Meistererzählungen über die Entwertung von plan- und machbaren Zukunftsvisionen in diesem Säkulum. Für die Geschichte der Arbeit liefern die Untersuchungen gewinnbringende Ergänzungen in Bezug auf die Versuche, das letzte Jahrhundert mit „Prozessbegriffe[n]“ (S. 12) wie Industrialisierung, Rationalisierung, Automatisierung, Technisierung, Flexibilisierung und Optimierung inklusiver ihrer vielfältigen Zukunftsimplikationen zu beschreiben. Die Gesamtschau des Werkes unterstreicht die Vielfalt vergangener Zukünfte von Arbeit und öffnet den Blick für ihre kontingenten Interdependenzen.

Selbstkritisch benennen die Herausgeber:innen bereits die wenigen Mankos der Forschungsbeiträge, wozu insbesondere die räumliche wie inhaltliche Fokussierung auf das europäische, und hier insbesondere auf das deutsche Modell des männlich dominierten Normalarbeitsverhältnisses gehört. So würden sicherlich etwa feministische oder globalgeschichtliche Perspektiven sowie eine Erweiterung des Untersuchungszeitraumes in noch frühere Epochen den Umfang historischer Zukünfte von Arbeit über das im Buch bereits geleistete Maß hinaus pluralisieren und erweitern. Auch der Einfluss von Migrations- und Fluchtbewegungen auf das Untersuchungsfeld böte per se notwendige Anknüpfungspunkte. Ebenso spannend wären Betrachtungen, die sich Zukunftspraktiken jenseits der klassisch betrieblich und / oder gewerkschaftlich organisierten (Erwerbs-)Arbeit widmen.4

Die COVID-19-Pandemie führt uns in einem derzeit weitgehend unbekannten Maß vor Augen, wie sich Zukunftshorizonte auch jenseits des menschlichen Wirkens permanent verändern. Dies fordert die Gesellschaft insbesondere vor dem Hintergrund heraus, dass es uns selbstverständlich erscheint, über die eigenen Lebensentwürfe zu entscheiden und sie beeinflussen zu können. Diese Form von Kontrollverlust in Bezug auf die (Un-)Planbarkeit unserer Zukunft ist eine Herausforderung, die einschüchternd wirken kann. Die Textsammlung kann in diesem Sinne zu einem gewissen Maße dabei helfen, sich zu vergegenwärtigen, dass unbekannte oder gar ängstigende Entwicklungen schon früher nicht automatisch zu einer dystopischen Zukunft geführt haben – speziell dann, wenn eine aktive Auseinandersetzung mit den vielfältigen Zukunftsszenarien erfolgt.

Anmerkungen:
1 Vgl. Jan Kellershohn, Tagungsbericht: Vergangene Zukünfte der Arbeit. Historische Imaginationen, Prognosen und Planungen von Arbeit in der Moderne – Neue Perspektiven auf die Gewerkschaftsgeschichte VI, 17.-18.11.2016, Düsseldorf, in: H-Soz-Kult, 20.01.2017, <https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6939> (07.03.2022).
2 Den Aktualitätsbezug ihres Sammelbandes arbeitete auch das Herausgeber:innenduo bereits heraus: Franziska Rehlinghaus / Ulf Teichmann, Arbeit und Zukunft – Gegenwärtige Beobachtungen und historische Perspektiven, in: FES-Themenportal, <https://www.fes.de/themenportal-geschichte-kultur-medien-netz/artikelseite/arbeit-und-zukunft-gegenwaertige-beobachtungen-und-historische-perspektiven> (25.02.2022).
3 Rüdiger Graf / Benjamin Herzog, Von der Geschichte der Zukunftsvorstellungen zur Geschichte ihrer Generierung. Probleme und Herausforderungen des Zukunftsbezugs im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 42 (2016), S. 497–515.
4 Die angesprochenen Forschungsdesiderate hebt auch bereits diese Buchbesprechung hervor: Torben Möbius, Rezension von: Franziska Rehlinghaus / Ulf Teichmann (Hrsg.), Vergangene Zukünfte von Arbeit. Aussichten, Ängste und Aneignungen im 20. Jahrhundert, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 7/8 [15.07.2020], URL: <http://www.sehepunkte.de/2020/07/34041.html> (25.02.2022).